STEVEN WILSON PRÄGTE
WIE KEIN ANDERER DEN BE-
GRIFF PROGRESSIVE ROCK.
MIT SEINEM NEUEN ALBUM
IST ER NUN AUF DEUTSCH-
LANDTOUR UND SPRACH
MIT DER PISTE ÜBER DIE ZU-
KUNFT IN EINER DIGITALEN
WELT UND DEN TREND ZU-
RÜCK ZU VINYL.
Bei deinem neuen Album
„Hand.Cannot.Erase“ fällt
auf, dass die Songs sich alle
sehr unterschiedlich anhö-
ren. Wie bist du dazu gekom-
men?
Das ist nichts, was ich mir im Vor-
feld so vornehme. Es passiert ein-
fach, weil ich so viele verschiedene
Musikstile mag. Ich nehme mir nicht
vor, dass das Album 10% Pop, 10
% Rock und so weiter enthalten soll.
Aber es liegt auch daran, das das
Album wie eine Reise durch das Le-
ben einer Person ist und da halte ich
es für wichtig, verschiedene Arten
von Musik einfließen zu lassen. Das
Leben bietet so viele Emotionen.
Diese sollen natürlich auch in der
Musik vertreten sein. Mich reizt es
auch, Musik zu produzieren, die
frei von Genregrenzen ist.
Du wurdest auch stark von
LPs deiner Eltern beeinflusst.
Hast du diese LPs immer
noch? Sammelst du LPs?
Natürlich habe ich die noch. Ich
sammle CDs, aber auch Vinylplat-
ten. Ich habe ja noch das Ende der
Nostalgie-Ära der Vinylplatten er-
lebt und ich empfinde immer noch
sehr viel Nostalgie für Schallplatten.
Zurück zum Album: Es geht
um die Geschichte von Joyce
Carrol, oder?
Hm, nicht ganz. Das Album wurde
zwar von Joyce Carrol inspiriert,
aber der Charakter im Album ist fik-
tional. Es geht um die Geschichte ei-
ner jungen Frau, die in einer Groß-
stadt
aufwächst
und
im
STEVEN WILSON
HAND.CANNOT.ERASE
LIVE AM 10. APRIL IM CCH2 IN HAMBURG
Großstadtdschungel immer mehr
untergeht oder sich auflöst, wäh-
rend sie inmitten von Millionen
Menschen lebt. Es geht um die Idee,
von so vielen Menschen umringt zu
sein und dennoch unsichtbar zu
sein. Sie hat sich das aber selbst so
herausgesucht. Das ist der Start-
punkt des Albums. Natürlich hat der
Charakter auch viele meiner eige-
nen Gedankengänge.
Wie kritisch ist es, dass wir
online so vernetzt sind, aber
doch allein?
Menschen verlieren durch die On-
line Möglichkeiten das Gespür für
soziale Interaktion. Körpersprache
macht 80% der menschlichen Kom-
munikation aus. Diese Informatio-
nen fallen für Personen, die nur über
soziale Netzwerke mit ihren Freun-
den in Verbindung treten, weg. So-
ziale Medien sind antisozial. Viele
Menschen erschaffen dort ideali-
sierte Versionen von sich selbst.
Man kann sich also nie sicher sein,
mit wem man da wirklich kommuni-
ziert. Diese ganze Idee fühlt sich
falsch für mich an, da sie einem nur
vorgaukelt, soziale Kontakte zu
haben.
Gibt es ein Beispiel von einer
Person, die online anders
war als im echten Leben?
Ja, es gibt diese Fans, die online ex-
trem kritisch sind und mein Album
niedermachen. Und wenn ich sie
dann auch auf einem Konzert per-
sönlich treffe, stellt sich heraus, dass
sie total schüchtern sind und sich
kaum trauen, mit dir zu reden. Aber
es macht mir Hoffnung, dass junge
Menschen gerne gegen bestehende
Konventionen rebellieren. Womög-
lich gibt es bald Leute, die sich da-
von lossagen, zu sehr in die digitale
Welt abzutauchen. Ich würde mir
das wünschen. Es ist schon ein gu-
tes Zeichen, dass es heute viele Ju-
gendliche gibt, die wieder Vinyl-
platten hören.
Album Hand.Cannot.Erase
seit Februar im Handel,
Artwork and Photgraphie
by Lasse Hoile
Foto: Steven Wilson / Credit: Lasse Hoile
stevenwilsonhq.com
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