piste Schwerin 01/2023

LIFESTYLE PISTE.DE | LIFESTYLE 17 Stresstoleranzfensters zu sein, kann potentiell traumatisierend sein. In fast jedem Leben hat es solche Si- tuationen schon gegeben. Was können poten- tiell traumatisierende Situationen sein? Solche Stresssituationen im Baby- oder Kindesalter können zum Bei- spiel Trennungen von der Bezugs- person sein. Beispielsweise, wenn die Mutter ins Krankenhaus muss oder das Kind selbst und plötzlich allein ist. Auch wenn man sich nicht mehr explizit an solche Situationen erinnern kann (denn das explizite Gedächtnis beginnt erst ab dem 3. Lebensjahr), so ist es aber im impli- ziten Gedächtnis, dem Körperge- dächtnis, gespeichert. Auch das Schlaftraining, bei dem das Baby allein und schreien ge- lassen wird bis es still ist, kann eine Traumatisierung verursachen. Wenn ein Baby weint und schreit, drückt es damit sein Bindungsbe- dürfnis aus. Das ist ganz natürlich. Allein fühlt es sich in diesen Mo- menten nicht sicher und benötigt die Co-Regulation der Bindungs- person um einzuschlafen. Wenn niemand kommt um es zu trösten, steigt das Stressniveau im Körper des Babys so stark, dass es au- ßerhalb des Stresstoleranzfensters gerät. Der Körper wird dann geflu- tet von Stresshormonen. Dieser Zu- stand prägt sich ins System ein. Hört ein Baby bei diesem Schlaftraining dann tatsächlich auf zu weinen, so ist dies kein Erfolg des Schlaftrai- nings. Das Baby erlebt große Ohn- macht und rutscht in die totale Er- schöpfung und Resignation. Anstatt Ruhe und Erholung, steckt Stress im System. Der Cortisol-Spiegel bleibt weiterhin hoch. Das Baby verhält sich ruhig, der kleine Körper aber ist im Hochstress. Das Baby ist al- lenfalls in die absolute Untererre- gung gerutscht. Glaubenssätze die daraus entstehen können und im Erwachsenenleben wirken sind: „Ich bin nicht sicher“, „Ich bin allein gelassen.“, „Ich werde nicht gese- hen“, „Ich bin hilflos“ oder „Ich kann mich auf niemanden verlassen, ich mache besser alles alleine.“ Die sichere Bindung wird durch so ein Schlaftraining oder durch fehlende Co-Regulation gestört. Bindung wird dann als nicht mehr sicher erlebt. Als nicht mehr zu- verlässig. Die mobilisierte Energie bleibt im Stresssystem stecken und erhalten. Eine latente Spannung wird sich im Nervensystem einprä- gen. Diese kann dann später ge- triggert werden. Genauso kann es an Co-Regulation mangeln, wenn die Bezugsperson emotional nicht verfügbar oder nicht zuverlässig ist. seiner Verarbeitungs- und Wahr- nehmungsfähigkeiten aus (Entwick- lungstrauma). Hat ein Mensch dies erlebt, dann kann es sein, dass er als Kind oder erwachsener Mensch Verlust- ängste hat. Trennungen lösen dann eventuell „Todesangst“ aus. So in- tensiv können die getriggerten Zu- stände sein. Ich erinnere noch ein- mal daran: Die Überlebensenergie von damals steckt in diesen Zustän- den. Diese frühe Prägung kann sich auch in einer Angst vor dem Verlas- senwerden oder vor dem Alleinsein bemerkbar machen. Oder es kann sein, dass der Mensch immer wie- der hilflos und ausgeliefert fühlt. kenntnis erhöht und das Verständnis für eigene Verletzungen und Mus- ter, ist damit schon ein wichtiger Schritt getan. Warum es wich- tig ist Selbstregula- tion nachzulernen Frühe Traumatisierungen, v.a. diese auf Bindungsebene, können nur in Interaktion mit anderen Menschen heilen. Denn Bindungstrauma ist in Beziehung geschehen und kann auch nur in Beziehung wieder hei- len. Es ist wichtig, mit neuen, na- hestehenden Menschen korrigie- rende Erfahrungen zu machen. Diese Erfahrungen können am si- chersten in einer traumasensibel gestalteten Therapie oder im trau- masensiblen Coaching geschehen, oder mit Menschen die ausnahms- los sicher sind. Es ist auch wichtig, sich dem eige- nen Körper und seinen Empfindun- gen wieder zuzuwenden. Acht- same Körperwahrnehmung ist hier wichtig. Wenn sich die Achtsamkeit für sich selbst erhöht, gewinnt der Mensch an Stabilität. Es wird dann leichter fallen, den Platz im eigenen Leben einzunehmen und die eige- nen Grenzen zu spüren. Alles was das Nervensystem be- ruhigt und Freude bringt ist heil- sam. Bei Fragen zum Thema oder als traumasensible Coachin stehe ich gern zur Verfügung. Ich wün- sche viel Kraft, Mut, Geduld und gute Ressourcen auf dem eigenen und individuellen Weg die Folgen früher Traumatisierung zu heilen. Herzlichst, Karoline Kalbitz Mehr Informationen über das Ner- vensystem, zusammenhängende Symptome und Selbstregulation gibt es in meinem E-Book „Symp- tome verstehen und heilen – Regu- lation dient deiner Heilung“ auf der Website. karolinekalbitz.de Fotos: 1_© Dominik Wörn ➀ Zum Beispiel wenn ein Elternteil an Süchten, Bipolarer Störung oder Depressionen leidet und nicht zu- verlässig für das Kind da ist. Entwicklungstrauma und Folgen auf Bindungs- ebene zusammengefasst Noch einmal ganz kurz zusam- mengefasst heißt das: Trauma- tisierungen auf Bindungsebene in dieser verletzlichen Phase der kindlichen Entwicklung entstehen durch fehlende oder mangelnde Co-Regulation (Bindungstrauma). Frühe Traumatisierungen, z.B. durch Stress, Vernachlässigung, Verlust oder Misshandlungen haben gro- ßen Einfluss auf die Entwicklung von Psyche, Seele und Körper des Kin- des. (Vgl. Verena König 2021) Die Erfahrungen die ein Kind macht, wirken sich auf die Entwicklung Wie kann man nun von Entwicklungstrauma oder Bindungstrauma heilen? Es ist sinnvoll, sich die eigene Bio- grafie einmal liebevoll anzu- schauen. Welche Bindungserfah- rungen hat man gemacht? Waren das sichere oder unsicher Bin- dungserfahrungen? Oder waren sie ambivalent und dadurch unsi- cher?Welche Situationen, in denen man nicht reguliert worden ist, hat man erleben müssen? Vieles kann nicht explizit erinnert werden, denn es ist im Körpergedächtnis, im im- pliziten Gedächtnis, gespeichert. Aber es ist auch nicht notwendig traumatische Erlebnisse zu erinnern oder gar noch einmal zu durchle- ben. Heilung beginnt, wenn sich der betroffene Mensch sich selbst liebevoll und verständnisvoll zu- wendet. Wenn sich die Selbster-

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