piste Schwerin 01/2023
LIFESTYLE 16 LIFESTYLE | PISTE.DE WIE ÄUSSERT SICH EIN ENTWICKLUNGS- UND BINDUNGSTRAUMA? Bevor ich beschreibe, wie ein Entwicklungstrauma („Trau- mabedingte Entwicklungsstö- rung“) entsteht, möchte ich zuerst einmal die Folgen schil- dern, unter denen ein erwach- sener Mensch aufgrund des- sen leiden kann. Entwicklungstraumata behindern die ungestörte und gesunde Ent- wicklung eines Kindes. Traumati- sierende Umstände können zum Beispiel Vernachlässigung, Miss- handlung, Verlust oder Stress (auch schon im Mutterleib) sein. Dies wirkt sich auf die Hirnentwick- lung und auf bestimmte Gene des Kindes aus. Die Folgen, die ein Entwicklungs- trauma nach sich zieht, sind oft- mals übersehen, nicht offensichtlich oder werden falsch interpretiert. Ein Entwicklungstrauma, aber auch ein Bindungstrauma, beeinflusst die Art und Weise, wie der Betrof- fene heutige Beziehungen lebt und gestaltet, sowohl zu sich selbst als auch zu anderen. Und wie sehr er in der Lage ist sich selbst zu regu- lieren. Aufgrund der Dynamiken, die ich später noch beschreiben werde, prägen sich verschiedene dysfunktionale Muster in unser Nervensystem ein. Eventuell nimmt der von Kindheitstrauma betrof- fene Mensch selbst wahr, dass er sich nicht gut regulieren kann, er sich grundlegend über- oder un- tererregt fühlt, Ängste hat, Span- nungen und Unruhe im Innern herrschen. Auch das latente Ge- fühl, sich nicht wohl oder sicher zu fühlen, nicht am richtigen Platz zu sein, kann Folge von Entwicklungs- trauma sein. Ein Entwicklungstrauma kann weit- reichende, auch eher subtile, Fol- gen haben. Eine Folge kann sein, dass der betroffene Mensch even- tuell ein eher negatives Welt- und Selbstbild hat. Vielleicht emp- findest dieser die Welt oder die Menschen nicht als sicher. Wenn man durch ein Entwicklungstrauma keine gesunde Selbstregulation lernen konnte, dann ist man ab- hängig davon, dass ein anderer Mensch hilft und reguliert. Auch der Zustand, sich selbst unter vie- len Menschen noch einsam und nicht zugehörig zu fühlen, kann Trauma-Folge sein. Ebenso das Leiden unter Bindungslosigkeit oder unter dem Konflikt zwischen Scheinautonomie und Bindung. Wie äußert sich ein Ent- wicklungstrauma spe- ziell bei Kindern? → Im Gespräch mit Karoline Kalbitz, Heilpraktikerin für Psychotherapie hat mit den Bindungspersonen zu tun. Der Mensch ist von Natur aus ein stark auf Bindung ausgerichte- tes Wesen. Schon allein deshalb, weil er als Neugeborenes nicht überleben könnte, würden sich nicht die Bezugspersonen küm- mern. Dadurch ist ein Neugebore- nes oder ein Kind stark verletzlich. Unser autonomes Nervensystem, auch schon im Mutterleib, ist mit einem Stresssystem verkoppelt. Ein Baby empfindet Stress zum Beispiel beim Empfinden von Hunger, Kälte, Alleinsein usw. Geht es dem Baby oder Kind gut, d.h. werden seine Bedürfnisse versorgt, dann befin- det es sich innerhalb des Stress- toleranzfensters. Das geschieht dann, wenn es die Bindungsper- son co-reguliert. Sobald das kleine tion zwischen Kind und Bindungs- person, die es dem Kind ermög- licht sicher gebunden zu sein und sich zu trauen, die Welt zu entde- cken, also auch Autonomie zu ent- wickeln. Co-Regulation ist geprägt von einem gesunden, wohlwollen- den, unterstützenden und sicheren Verhalten der Bindungsperson. Wenn keine Co-Regula- tion durch die Bindungs- person geschieht Es kann aber leider sein, dass die Bindungspersonen diese Regula- tion nicht leisten können. Eventu- ell, weil sie selbst gerade im Stress oder selbst nicht reguliert sind. Ebenso kann es sein, dass sie nicht in der Lage sind feinfühlig mit dem Baby zu kommunizieren. So wer- den die Bedürfnisse des Kindes oder Babys schlimmstenfalls nicht erkannt und nicht versorgt. Auch starke Schmerzen oder Krankhei- ten im Säuglings- oder Kindesalter können diesen enormen Stress aus- lösen. Bei nicht vorhandener Regu- lation rutscht der Mensch aus dem Stresstoleranzfenster heraus und hinein in die Übererregung. Hier wäre Co-Regulation extrem wich- tig, da jetzt nun auch Stresshor- mone ausgeschüttet werden. Dieser Zustand ist für das Baby oder Kind extrem bedrohlich. Findet keine Co- Regulation statt, so prägt sich diese Erfahrung tief in das Nervensystem ein. In diesem Zustand wird viel Überlebensenergie mobilisiert, die ohne Co-Regulation nicht aufgelöst wird. Sie bleibt im Nervensystem stecken. Wenn sich ein Kind immer wieder in diesen dysregulierten Zu- ständen befindet, entwickelt sich eine Stressdynamik im Nervensys- tem. Alleingelassen außerhalb des Kinder, die unter Entwicklungs- trauma leiden, haben oft Probleme in der Konzentrationsfähigkeit, in der Selbstregulation, der Selbstbe- ruhigung, im Ausdrücken-können eigener Gefühle und im Umgang mit sich selbst und anderen Men- schen. Durch die Veränderung im Stresshormonhaushalt, können ebenfalls Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen, Probleme beim Schlafen oder Symptome die dem Phänomen der Hoch- sensibilität ähneln, auftreten. Wei- tere Auffälligkeiten können sein: Bindungsstörungen, Trennungs- angst, Anklammern, Depressionen, Ängste, ADHS, Verhaltensauffäl- ligkeiten, Selbst- und Fremdag- gressionen und mangelnde Em- pathie (Vgl. Verena König „Bin ich traumatisiert?“ 2021) Wie entsteht ein Ent- wicklungstrauma? Ein Entwicklungs- und Bindungs- trauma entsteht sehr früh im Leben eines betroffenen Menschen und Wesen in Stress und damit an den oberen Rand des Stresstoleranz- fensters oder darüber hinaus gerät, geschieht Co-Regulation* durch Mutter oder Vater. Dies kann zum Beispiel durch liebevolle Zuwen- dung, Wärme, einfühlsame Kom- munikation, Körperkontakt oder durch Füttern geschehen. Dadurch kann das Stressniveau im Kind wie- der sinken, ein Zurückkommen ins Stresstoleranzfensters ist möglich. Ein Bindungstrauma entsteht dann, wenn die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson gestört wird, z.B. durch Verlust oder Gewalt der Bindungsperson. Die Bindung und nachfolgend Bindungsfähigkeit ist betroffen, es muss daraus aber kein Entwicklungstrauma entstehen. Gibt es andere Bezugspersonen, die das Kind auffangen und regulieren, so kann dies verhindert werden. Die Grenzen zwischen Bindungs- und Entwicklungstrauma sind fließend, weshalb sich der Begriff „Frühe Traumatisierung“ oder „Kindheits- trauma“ eher eignet. (Vgl. Verena König „Bin ich traumatisiert?“ 2021) *Co-Regulation ist eine Interak- ➀ Fotos: 1_© Dominik Wörn
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MzQxODIw